Provenienzforschung
Die Ausgangslage
Rund 230.000 einzelne Kunstwerke verwahrt unser Museum derzeit. Alle diese Stücke haben ihre individuelle, sich aber nicht immer klar mitteilende Geschichte und Herkunft.
Die heute verfügbaren digitalen Dokumentationsmöglichkeiten – insbesondere die Museumsdatenbank – waren lange unvorstellbar. Handgeschriebene Inventare, sporadische fotografische Erfassung und stets weniger Personal als notwendig, um die Sammlung wissenschaftlich akkurat zu dokumentieren, bezeichneten noch bis in die 1990er Jahre die Situation.
Extrem unzulänglich verzeichnet sind die zwischen 1873 und 1895 erworbenen Bestände, in diesen Jahren wurde das Museum von einem privaten Verein geführt. Das Projekt, sie neu zu inventarisieren, startete vor rund 120 Jahren und ist bis heute nicht abgeschlossen. Die Identifizierung gerade dieser, zu großen Teilen noch vorhandenen Objekte stellte und stellt sich oft schwierig dar.
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs kamen zahlreiche "sichergestellte" Kunstwerke aus Schlössern und Herrenhäusern, später auch aus Enteignungen in die Museumsruine, die Rahmenbedingungen der Übernahme und die Form der Dokumentation waren dabei oft bescheiden. Zur gleichen Zeit hatte das Museum durch Plünderungen an den Auslagerungsorten und durch Beschlagnahmungen vor allem durch das sowjetische Militär extreme Verluste zu verbuchen.
In den 1960er/70er Jahren baute das Museum einen großen Verwahrbestand zeitgenössischer Kunst zur Bestückung von Ausstellungen im Ausland auf. Auch diese Objekte blieben oft über Jahrzehnte ohne Inventareintrag.
Überlastungen der wenigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zeitigten immer wieder Informationsverluste über ins Haus gelangte Kunstwerke.
Diese wenigen Andeutungen mögen genügen, um zu verdeutlichen, dass einerseits Unklarheiten über die Herkunft eines bestimmten Kunstobjekts sehr unterschiedliche Ursachen haben können und dass sich andererseits die Notwendigkeit von Forschung und Aufklärung sowohl auf die im Museum vorhandenen Stücke, ebenso aber auch auf die Verluste richten muss.
Was haben wir bislang geleistet?
Das Bewusstsein für eine detaillierte Provenienzdokumentation und -prüfung hat sich in unserem Haus seit den 1990er Jahren stetig entwickelt. Hilfreich waren zunächst die Anlage von Dokumentationsmappen, die alles vorhandene Material zu jedem einzelnen Objekt bündeln, sowie natürlich die schrittweise entwickelten Museumsdatenbanken.
In den 1990er Jahren kam die Frage der Restitution von Bodenreform-Kunstgut aufs Tapet. Sie erforderte eine intensive Sichtung und Prüfung des Bestandes und führte zu zahlreichen Rückgaben und gütlichen Einigungen.
Wenig später erfolgte durch externe Kräfte eine kritische Durchsicht aller zwischen 1933 und 1945 erworbenen Objekte. Sie ergab kaum nennenswerte Anhaltspunkte auf unrechtmäßige Erwerbungen.
Intensiv auseinandergesetzt haben wir uns mit den Verlusten an den Auslagerungsorten und den Beschlagnahmungen durch die Rote Armee. Im Ergebnis konnten irrtümlich in die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden gelangte Kunstwerke für Leipzig zurückgewonnen und Nachweise über nach wie vor im Moskauer Puschkin-Museum befindliche Beutekunst-Stücke unseres Hauses erbracht werden.
In unseren Bestandskatalogen und in der Exponatbeschriftung unserer Ausstellungen waren wir in Leipzig Vorreiter hinsichtlich des Ausweisens aller bekannten Provenienzen.
Mitte der 1940er Jahre in unser Haus gekommene, vorher im Zuge der Aktion "Entartete Kunst" beschlagnahmte Bauhaus-Grafik anderer Museen haben wir ohne viel Aufhebens an die ursprünglichen Eigentümer zurückgegeben (was in der deutschen Museumslandschaft übrigens bis heute nicht selbstverständlich ist).
2015 legten wir in dem Band "Die Museumschronik 1930 bis 1945" detaillierte Dokumente über die Vorgänge in unserem Museum während der NS-Zeit vor. Der Nachfolgeband, der die Jahre 1946 bis 1960 abdeckt, ist bereits erhältlich. Damit sind Akteure, Orte, Prozesse zahlreicher wichtiger Erwerbungsvorgänge greifbar.
Zu prominenten Einzelobjekten - wie zu der einst für Hitlers Linzer Museumsprojekt angekauften della Robbia-Majolikamadonna, die wir als Leihgabe der Bundesrepublik Deutschland verwahren - haben unsere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler detaillierte Forschungen unternommen, deren Ergebnisse wir auch an unsere Besucherinnen und Besucher weitergeben.
2018 haben wir uns entschieden, ein 1936 auf der Auktion der jüdischen Sammlung Margarete Oppenheim erworbenes Konvolut durch eine Ausgleichszahlung an deren Erben nochmals anzukaufen bzw. partiell zu restituieren. Der Vorgang wurde 2021 abgeschlossen.
Und obwohl das Thema der durch Kolonialismus erplünderten Objekte meist eines der ethnologischen Museen ist, beteiligen wir uns aktuell an einem Forschungsprojekt, welches untersucht, ob sich chinesische Kunstwerke, die nach dem Boxeraufstand im frühen 20. Jahrhundert in den europäischen Kunsthandel kamen, in deutschen Museen befinden (s.u.).
Ausblick und weitere Vorhaben
Unser wichtigstes Ziel ist der Aufbau einer Online-Objektdatenbank, die sämtliche vorhandene Objekte des Museums ebenso wie die Verluste enthalten soll. Nur dadurch wird letztlich Transparenz und Zugänglichkeit sämtlicher Informationen für alle Interessierten und Forschenden möglich. Ein erster Block dieser Online-Kollektion wird in diesem Jahr zugänglich sein, das Gesamtvorhaben aber erfordert noch viel Kraft, Personal, Zeit und Geld. Wir hoffen auf Förderung und Kooperationspartner.
Der größte Forschungsbedarf besteht aktuell für Kunstgegenstände, die zwischen 1946 und Mitte der 1990er Jahre ins Museum gelangten. Gerade in dieser Zeitspanne wurde die Herkunft der Stücke oft wenig hinterfragt.
Unser Forschungsinteresse richtet sich aber auch auf nicht mehr vorhandene Stücke, so auf die um 1945 in Verlust geratenen Objekte wie auch auf viele Hundert Stücke, die auf Anordnung des DDR-Kulturministeriums seit den frühen 1960er Jahren an den Kunsthandel abgegeben werden mussten.
Spuren des „Boxerkrieges“ in deutschen Museumssammlungen
eine gemeinsame Annäherung
Porzellan, Bronzen, Bildrollen – hunderte von Objekten aus China in deutschen Museumssammlungen stammen aus Plünderungen, die um 1900 im Kontext des sogenannten „Boxerkrieges“ stattfanden. Ihre problematische Herkunft ist in den wenigsten Fällen bekannt, die unterschiedlichen Wege, auf denen sie in deutsche Sammlungen gelangten, nur ansatzweise erforscht. Erstmals tun sich unter der Leitung des Zentralarchivs der Staatliche Museen zu Berlin in diesem Projekt sieben deutsche Museen zusammen, um in Kooperation mit dem Palastmuseum Peking ihre Bestände systematisch nach Plünderware aus dem Boxerkrieg zu befragen und gemeinsam deren Provenienzen zu erforschen.
In der westlichen Literatur als „Boxer“ bezeichnete Kämpfer waren Ende des 19. Jahrhunderts treibende Kraft einer antiimperialistischen Bewegung in Nordchina, die den Namen Yìhétuán Yùndòng (義和團運動, Bewegung der Verbände für Gerechtigkeit und Harmonie) trug. Die Aufständischen griffen zunächst christliche Missionarinnen und Missionare und ihre chinesischen Anhängerinnen und Anhänger, bald auch ausländische Unternehmerinnen und Unternehmer sowie Diplomatinnen und Diplomaten an. Im Mai 1900 breiteten sich die gewalttätigen Ausschreitungen bis nach Peking aus und gipfelten im Juni in einer Belagerung ausländischer Gesandtschaften. Eine Acht-Nationen-Allianz, zu der auch das Deutsche Reich gehörte, entsandte Truppen nach China. Während des sogenannten „Boxerkrieges“ von 1900-1901 wurden nicht nur die Aufständischen auf brutalste Art und Weise niedergeschlagen, Peking wurde zudem ausgeraubt und gebrandschatzt. Tausende von Kunstwerke und andere Artefakte aus den Plünderungen gelangten in der Folge direkt oder auch indirekt, zum Beispiel über den Kunsthandel, in deutsche Museumssammlungen, wo sie bis heute aufbewahrt und ausgestellt werden.
Das Projekt "Spuren des Boxerkrieges in deutschen Museumssammlungen" untersucht sowohl Objekte in den einzelnen Institutionen als auch Akteurinnen und Akteure, die in deren Raub, Transport und Handel verwickelt waren. Dabei sollen museumsübergreifend historische Mechanismen des Sammelns dieser sensiblen Objekte in Deutschland sichtbar gemacht werden. Ziel des Projekts ist neben der Erforschung der Sammlungsbestände die Herausgabe eines methodologischen Leitfadens. Dieser wird die Basis für eine umfassendere Aufarbeitung der im Kontext des „Boxerkrieges“ stehenden chinesischen Sammlungsbestände in nationalen wie internationalen Museen schaffen.
Einrichtungen:
Museum für Asiatische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin
Ethnologisches Museum, Staatliche Museen zu Berlin
Museum am Rothenbaum – Kulturen und Künste der Welt Hamburg
Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg
GRASSI Museum für Angewandte Kunst Leipzig
Museum Angewandte Kunst Frankfurt am Main
Museum Fünf Kontinente München
Projektleitung: Dr. Christine Howald
Wissenschaftliche Mitarbeiterin: Kerstin Pannhorst
Kooperationspartner: Palastmuseum Peking
Projektförderung: Deutsches Zentrum Kulturgutverluste (Projekt-ID: KK_LA03_I2021)
Projektlaufzeit: November 2021 bis November 2023
Erklärfilme Provenienzforschung
Das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste hat drei anschaulich animierte Erklärfilme zu zentralen Themen Provenienzforschung veröffentlicht. Diese geben Antwort auf die Fragen:
Die Links führen direkt zu den Filmen bei YouTube.